Interview mit J. W. Heisig

Abenteuer in Kanjiland – James W. Heisig und die Entstehung von Remembering the Kanji

Nach einem Interview mit James W. Heisig

von Juan W. Rivera
aus dem Englischen von Robert Rauther

Es geschieht immer wieder, daß jemand seinen eigenen persönlichen Herausforderungen entgegentritt, sie systematisch überwindet und jenes System dann mit dem Rest der Welt teilt. Das erweitert nicht nur seine eigene Welt, sondern eröffnet sie zugleich Generationen von Menschen nach ihm. James W. Heisig, Autor des bisweilen kontroversen Buches Remembering the Kanji I: A Complete Course on How Not to Forget the Meaning and Writing of Japanese Characters (dt.: James W. Heisig/Robert Rauther; Die Kanji lernen und behalten 1. Bedeutung und Schreibweise der japanischen Schriftzeichen), ist ganz sicherlich einer dieser Menschen. Viele bezeichnen seinen Ansatz zum Erlernen des Schreibens der komplexen japanischen Schriftzeichen als “revolutionär”. Denn er macht das Japanische und die Studien der Kanji in ihrem Leben zugänglich und eröffnet ihnen eine ganze Welt des Lernens und der Möglichkeiten. Ich habe ein telefonisches Interview mit Prof. Heisig in seinem Büro am Institut für Religion und Kultur der Nanzan-Universität in Nagoya, Japan durchgeführt.

Heisigs Kanji-Reise begann, während er in einer Kommune von Dichtern und Künstlern lebte, die als die “spirituelle” Seite der Sandinista-Revolution galt. Jene sollte bald darauf die Somoza-Regierung stürzen. Aufgrund seiner Vertrautheit mit Forschungszentren wurde er als Berater an die Nanzan-Universität eingeladen, um die Gründung eines akademischen Instituts zu besprechen. Es sollte sich dem Dialog zwischen Religionen und Philosophien in Osten und Westen widmen. Kurz nach der Konsultation wurde er erneut eingeladen, um an dem Projekt unterstützend teilzunehmen – unter der Bedingung, daß er fünf Jahre bliebe und zuvor Japanisch in Wort und Schrift auf akademischem Niveau meistern würde.

Als Weltenbummler, der Zeit in so fernen Gegenden wie Bangladesh und dem Baskenland verbracht hatte, erklärte Heisig dem Direktor der Sprachschule in Kamakura, auf die man ihn geschickt hatte, daß er an Sprachunterricht nicht interessiert sei. Dies war nicht die Weise, auf die er in der Vergangenheit Sprachen erlernt hatte. Der Unterricht hatte bereits begonnen, so daß der Schulleiter nachgab und Heisig bleiben, das Lehrgeld zahlen und selbständig lernen ließ.

Heisig fing an, indem der die Alfonso Japanisch-Reihe las und untersuchte – einen audio-lingualen Ansatz, der das Sprechen betont, bevor er sich auf die geschriebene Sprache konzentriert. Heisig wollte zu Beginn seines Sprachstudiums “eine grobe Vorstellung von der Grammatik” gewinnen, aber nicht notwendigerweise im Auswendiglernen aller Regeln steckenbleiben.

Schon sehr bald wurde Heisig klar, daß er zunächst die geschriebene Sprache bewältigen mußte, wenn aus ihm ein erfolgreicher, unabhängiger Japanischlernender werden sollte. Jeder in seiner Umgebung erklärte ihm, daß dies unmöglich sei. Was das Sichaneignen der Kanji betraf, erwarteten selbst Japanischlehrer, daß man “ein paar hundert erlernt und es dann aufgibt. Die Japaner selbst brauchen neun Jahre, um die Grundzüge der Kanji zu begreifen, und auch sie vergessen sie, erklärten mir die Leute in meinem Umfeld.”

Es gab noch andere entmutigende Zeichen. In der Schulbibliothek zog er alle Bücher über das Erlernen der japanischen Schriftzeichen aus dem Regal. “Es fiel mir auf, daß die ersten 50 oder 60 Seiten ziemlich abgegriffen waren. Nach jenen Seiten hätte es sich dann um Bücher handeln können, deren Seiten noch aufgeschnitten werden mußten. Jene Seiten blieben unberührt.” Viele Japanischlernende waren dort angelangt und auf eine Kanjimauer gestoßen.

Heisig blieb entschlossen. Sein Durchbruch kam, als er Wiegers Buch über die Etymologie der chinesischen Schriftzeichen entdeckte. “Ich las die ganzen 800 Seiten und verstand ungefähr 20 Prozent davon, aber ich fand heraus, daß chinesische Schriftzeichen in Grundelemente zerlegt werden können. Ich glaube, er hatte eine Liste von 220 Elementen, und die Schriftzeichen setzten sich aus diesen Stücken zusammen.” Also übertrug Heisig diesen Ansatz auf das Lernen von Lesen und Schreiben des Japanischen. Er zerlegte Japanisch in die Grundelemente und beschloß, den Kanji englische Lesungen zu geben, anstatt sich mit den unterschiedlichen japanischen Aussprachen desselben Kanjis aufzuhalten.

“Ich zerlegte die Kanji in Einzelteile. Ich begann mit den einfachsten Teilen, ging die ganze Liste durch, sah, was ich damit anfangen konnte, fügte ein weiteres Teil hinzu und durchlief dann erneut die ganze Liste von Kanji. Ich führte ein kleines Tagebuch über mein Vorgehen, und genau 30 Tage, nachdem ich begonnen hatte, war ich mit dem Schreiben aller Zeichen fertig, hatte ich sie alle erlernt. Das sprach sich dann an der Schule herum.”

Bald darauf wurde Heisig vor die Lehrerversammlung der Schule zitiert. Einige Mitglieder des Lehrkörpers waren verdutzt, daß es an ihrer Schule jemanden gab, der gar nicht am Unterricht teilnahm.

“Sie baten mich um drei Uhr herein, zur Teezeit. Dort standen sechs Lehrer. ‘Wir haben gehört, daß Sie die Schriftzeichen gelernt haben, und wollen sehen, ob Sie die auch wirklich schreiben können.’ ” Heisig stimmte zu, und sie stellten ihn vor eine Tafel. Sie baten ihn, “inu” (Hund) zu schreiben, und Heisig erklärte, daß er nicht wisse, was “inu” bedeutete.

“Sie wollen sagen, daß Sie seit zwei Monaten hier sind und nicht wissen, was das japanische Wort für ‘Hund’ ist?” Die Japanischlehrer begannen, einander zuzuraunen, und Heisig fragte den einzigen Lehrer, der Englisch sprach, worüber sie sich unterhielten.

“Sie sagen, daß Sie wirklich den Unterricht besuchen sollten. Das ist nicht zu entschuldigen.”

“Nein, nennen Sie mir einfach englische Wörter.”

Das ist der Dreh- und Angelpunkt des Heisig’schen Systems. Heisig besteht darauf, daß man die Kanji erst in seiner eigenen Sprache lernt, bevor die verschiedenen Aussprachen einen ins Stolpern bringen.

“Sie sagten ‘Hund’, und ich schrieb Hund. Sie sagten ‘Katze’, und ich schrieb Katze. Dann begannen sie, untereinander zu murmeln und erklärten: ‘Das sollten Sie gar nicht kennen. Es steht nicht auf der Liste.’ ”

Nachdem die Tafel mit Schriftzeichen gefüllt war, sprachen die Lehrer wild untereinander und baten Heisig, um fünf Uhr wiederzukommen.

“Also ging ich und fand das alles sehr merkwürdig. Ich kam wieder. Die Lehrer hatten beschlossen, daß ich über ein fotographisches Gedächtnis verfügen müßte, welches für die Schriftzeichen nur von kurzer Dauer sein würde, und daß ich am Unterricht teilnehmen und meine Selbststudien aufgeben sollte.”

“Ich sagte ihnen, daß mein Gedächtnis wie das jedes anderen sei, aber daß der gesamte Stoff äußerst einfach zu lernen sei, wenn man ihn in der richtigen Reihenfolge lerne.”

Heisig versuchte nach Kräften, sie zu überzeugen. Am Ende beschlossen sie, daß er mit dem Besuch des Unterrichts beginnen und mit den anderen Schülern nicht über die Methode sprechen solle, da sie nicht über dasselbe fotographische Gedächtnis verfügten. Heisig überlegte, die Schule zu verlassen und die Entstehung von Problemen zu vermeiden, aber die anderen Schüler fingen an, zu ihm zu kommen und ihn um seine Notizen zu bitten. Einiges von Heisigs System war in Notizbüchern und auf Papierschnipseln festgehalten, aber das meiste war überhaupt nicht niedergeschrieben.

Als die Nachricht von Heisigs Leistungen nach außen drang, interessierten sich immer mehr Schüler dafür, das System zu diskutieren. Die meisten stellten sich auf die Seite seiner Lehrer und wiederholten die Argumente, die bis heute von Heisigs Kritikern kommen. Kurz gefaßt, erklärten die Schüler, daß dies nicht die richtige Lernweise sei. Man meistere die Schriftzeichen nicht, wenn man einfach nur lerne, wie man sie schreibt, ohne sich auch die japanische Aussprache anzueignen.

“Ich sagte ihnen, sie sollten sich die chinesischen und koreanischen Studenten an der Schule ansehen:  ‘Jene wissen gar nichts von den Aussprachen, aber sie kommen mit einem großen Vorteil und lassen Euch hinter sich. Die chinesische Grammatik unterscheidet sich von der japanischen völlig, aber chinesische Schüler kennen die Bedeutung der Schriftzeichen. Ich möchte mir denselben Vorteil verschaffen, den die Chinesen haben.’ ”

Eines Tages wurde Heisig an die Nanzan-Universität beordert, um mit dem Präsidenten zu sprechen. “Sie wissen, daß wir einige Mühe hatten, Sie nach Japan zu holen, um das Institut zu gründen. Eine Menge Geld ist investiert worden, um Sie hierher zu schaffen. Wie wir hören, nehmen Sie nicht am Unterricht teil und lernen kein Japanisch. Wenn Sie das alles nicht ernst nehmen, ist es vielleicht an der Zeit für Sie, nach Hause zu gehen.” Heisig hielt inne und fragte: “Was genau haben Sie gehört?”

“Nun, wir haben Gerüchte gehört, daß Sie angeblich die Schriftzeichen gelernt hätten.”

“Nun, das habe ich.”

Der Präsident erhob sich und erklärte: “Schauen Sie, ich lebe seit 16 Jahren in Japan. Ich bin Präsident einer japanischen Universität. Ich kenne keinen Ausländer, der alle diese Schriftzeichen schreiben kann, und Sie erwarten von mir zu glauben, Sie hätten das in einem Monat geschafft?”

“Das habe ich.”

“Ich hatte mir schon gedacht, daß Sie sich diesbezüglich als trotzig erweisen würden.”

Heisig erklärte mir, daß sie eine Tafel hereinrollten und drei oder vier Lehrer aus der Abteilung für japanische Literatur herbeiholten, um ihn zu testen. Sie prüften seine Kenntnisse davon, wie man japanische Schriftzeichen schreibt. Nachdem Heisig seine Kanji-Kenntnisse eine Stunde lang demonstriert hatte, schickte der Präsident die Japanischlehrer fort.

“Er stand von seinem riesigen Eichenschreibtisch auf und setzte sich in einen Sessel neben mich. ‘Wie haben Sie das geschafft?’ “

Heisig erklärte einmal mehr, wie er die Kanji in ihre Bestandteile zerlegt und ein System zum Erlernen der Bedeutungen ersonnen hatte.

“Ich möchte, daß Sie zurückkehren und das alles in einem Buch niederschreiben.”

Heisig widersprach. “Ich weiß noch nicht, wie man spricht. Ich habe ein Vokabular von unter 200 Wörtern. Ich muß noch so viel lernen.”

“Nein, nein, nein… Ich möchte, daß Sie dies sofort tun. Stellen Sie alles andere hintan und schreiben Sie dies.”

Heisig begab sich zurück zur Sprachschule. Er las seine Notizen auf und mußte die diversen Karteikarten ausfindig machen, die er an Studenten weitergegeben hatte. Als er alle Notizen zusammengefügt und alle Kanji ausgeschnitten und eingeklebt hatte, hielt er endlich seine erste Verkörperung von Remembering the Kanji in der Hand, die den Titel Adventures in Kanji-Land (“Abenteuer in Kanijland”) trug. Das Buch zur Veröffentlichung zu bringen, stellte eine ganz eigene Serie von Abenteuern dar. Obwohl die Nanzan-Universität die ersten 600 Exemplare verlegte, war es eine andere Sache, diese auch zu verbreiten und zu verkaufen.

Heisig sprach Iwamoto Keiko von Tuttle Publishing an. Wieder wurde er getestet. “Können Sie die Zeichen für meinen Namen schreiben?” Heisig befolgte die Aufforderung, obwohl er einige Fehltritte machte – perfekt geschriebene Kanji, die auf Englisch ähnliche Bedeutungen wie “Kei” hatten. Frau Iwamoto war trotz der Fehler hinreichend beeindruckt. “Wir kaufen ihnen alle Exemplare ab.” Einige Monate später waren sie ausverkauft.

In der Zwischenzeit verließ Heisig die Sprachschule in Kamakura. Er hatte den tiefsten Respekt für die dortigen Lehrer, wollte jedoch mit seinen unabhängigen Methoden fortfahren. “Ich stimme Dante zu, der sagte, die einzigen Sprachen, die man in einer Schule lernen sollte, sind tote Sprachen.”

Er zog in die Berge der Nagano-Präfektur, wo er “mit den dortigen Kindern spielte und sprechen lernte.” Während dieser Zeit stellte er ein zweites Buch fertig, das den Bezwingern des ersten Bandes dabei hilft, effizienter zu lernen, wie man die Kanji auf Japanisch ausspricht.

Zwischen Reisen, Vorlesungen und anderen beruflichen Verpflichtungen versank das Manuskript des ersten Buches im Archiv. In den 1980ern, mit dem Aufkommen von Computern und Druckern, die japanische Zeichensätze setzen und drucken konnten, befreite Heisig sein Werk vom Staub und machte sich daran, es erneut zu drucken. Er trug sein Buch zu Japan Publications, die zunächst zögerten, es zu veröffentlichen und zu vermarkten.

“Ich sagte: ‘Ich bezahle den Druck des ganzen Projekts. Wenn es sich innerhalb eines Jahres verkauft, zahlen Sie mir die Druckkosten zurück und 20% des Gewinns.” Die ersten Stückzahlen waren innerhalb einiger Monate ausverkauft, und so begann eine anhaltende und fruchtbare Beziehung mit Japan Publications.

Es ist gut, daß Heisig an sein Manuskript glaubte und es wiederbelebte, denn sein Werk berührt und beeinflußt Menschen weiterhin auf Arten und Weisen, die er niemals hätte vorhersehen können. Eine Frau, Thelma Fayle, kaufte Remembering the Kanji, als sie sich auf einem Austauschprogramm in Japan befand. Einige Jahre später, in Kanada, interessierte sich ein an Legasthenie leidender Junge aus der Nachbarschaft für das Buch. Sie arbeiteten es durch, und der Junge lernte über 1.000 Schriftzeichen. Die Zuversicht und Fertigkeit, die er durch den Erwerb solch unerreichbar anmutender Fähigkeiten gewann, halfen ihm, seine Legasthenie zu überwinden und erfolgreicher in der Schule zu werden.

In Remembering the Kanji (dt.: Die Kanji lernen und behalten), besteht das Kanji für “Mäßigung” aus den Elementen “Gemütszustand” und “wahr”. Prof. Heisig hält sich bei der Beurteilung seines Werks zurück. Er erklärt: “Ich bin kein Sprachlehrer. Ich bin hier sozusagen hineingerutscht, weil der Präsident meiner Universität darauf bestand und mich dazu drängte, die Bücher zu schreiben.” Aber glücklicherweise verfügte Heisig über den geistesgegenwärtigen Gemütszustand, das Wahre an seiner Methode festzuhalten.

Sein Werk über die Kanji ist ins Deutsche, Spanische und brasilianische Portugiesisch (Anm. d. Übers.: sowie ins Französische) übersetzt und adaptiert worden. Einmal hat er sogar einen Heiratsantrag von einer Frau in Indien erhalten, die sich ins Kanjilernen verliebt hatte.

Obwohl Heisigs Zeit mit seinen Verpflichtungen am Institut für Religion und Kultur an der Nanzan-Universität ausgefüllt ist, öffnen seine Bücher über die Kanji weiterhin Japan und seine Schätze einer wachsenden Zahl von Menschen in aller Welt, und durch diese leben die Abenteuer in Kanjiland fort.

Juan W. Rivera ist Erzieher und Schriftsteller und lebt in der Stadt New York. Gegenwärtig arbeitet er an Memoiren über alles, was ihm auf dem Weg zum Erlernen des Japanischen passiert ist. Er ist zu erreichen unter taijuando@aol.com.

Copyright 2006 by Juan Rivera. All rights reserved. Alle Rechte vorbehalten. Veröffentlicht mit freundlicher Erlaubnis des Autors. Deutsche Übersetzung/German translation: Copyright 2006, Robert Rauther.